Was wir von Australiens Handy- und Social-Media-Verboten lernen können – ein Rückblick aus der Ferne

Thomas Knaus (Heidelberg University of Education | Frankfurt UAS)

Derzeit wird in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern – ein Handyverbot an Schulen sowie ein Social-Media-Verbot für Kinder beziehungsweise eine Altersgrenze für Jugendliche diskutiert. Erstaunlich ist dabei, dass diese Debatten – wie so oft in bildungspolitischen Kontexten – weitgehend isoliert voneinander geführt werden, obwohl sich viele Länder längst in vergleichbaren Auseinandersetzungen befinden. Dabei könnten wir von den Erfahrungen der jeweils anderen Länder profitieren. Gerade Australien, das weltweit als Vorreiter solcher Regulierungsmaßnahmen in liberalen Gesellschaften gilt, kann wertvolle Erfahrungsgrundlagen liefern. Eine gute Zusammenfassung der aktuellen Stimmen in der australischen Öffentlichkeit zum Handyverbot in Schulen bietet der Artikel „Two years after school phone bans were implemented in Australia, what has changed?“ von Sarah Ayoub, der vor wenigen Tagen, am 13. Oktober 2025, im The Guardian erschienen ist (die folgenden von mir gesammelten Statements habe ich um einige Zitate aus diesem Beitrag ergänzt).

In Bezug auf die restriktiven Medienpolitiken irritierte mich persönlich zunächst, dass ausgerechnet Australien – ein Land, das typischerweise für einen neugierig-kreativen Zugang zu digitalen Medien und Techniken steht – die weltweiten Verbotsdebatten angestoßen hat (bezüglich des Handyverbots war Frankreich zwei Jahre früher). Während in Deutschland der Umgang mit den jeweils neuen Medien und Techniken häufig eher angstgetrieben und entsprechend zögerlich („German Angst“) ist, begegnete ich in Down Under bislang eher einer sehr offenen und experimentierfreudigen Haltung gegenüber digitalen und auch KI-basierten Medien. Was motiviert also diesen restriktiven Kurswechsel?

Warum ist gerade Australien Vorreiter in den weltweiten Debatten um Medienverbote?

Aus meiner Sicht hat dies – nicht zuletzt – kulturelle Gründe. In Australien gilt das gesellschaftliche Mantra „be kind“ – sei freundlich, respektvoll und schränke die Freiheit anderer nicht unnötig ein. Hierbei darf man nicht unterschätzen, dass gerade für die Australier*innen – als stolze Ex-Convict Nation – Freiheit etwas sehr Wesentliches ist. Dieses Mantra gilt freilich auch für Eltern im Umgang mit ihren Kindern: Eltern werden entsprechend ungern als autoritär wahrgenommen und tendieren dazu, die individuelle Selbstentfaltung ihrer Kinder nicht durch Verbote einzuschränken. Das Ende 2024 eingeführte Social-Media-Verbot für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren wurde politisch deshalb nicht als Zensur, sondern als „Erziehungshilfe“ vermarktet: Der social media ban sollte Eltern entlasten, die Social-Media-Nutzung ihrer Kinder einzuschränken, ohne mit ihren Selbstbild und mit ihren Kindern in Konflikte zu geraten. Und ferner ohne in Erklärungsnot zu geraten, ist es doch keineswegs leicht zu begründen, warum man den Kindern Medien vorenthält, die ihre Eltern permanent nutzen… Dank des neuen Gesetzes können Eltern nun gegenüber ihren Kindern sagen: „Sorry, buddy… it’s the law!“ So führte im Übrigen der Premierminister von Australien, Anthony Albanese, im November 2024 den social media ban ein: „[…] I have an important announcement, and this one’s for the mums and dads. Social media is doing harm to our kids and I’m calling time on it. I’ve spoken to thousands of parents, grandparents, aunties and uncles. They, like me, are worried sick about the safety of our kids online. And I want Australian parents and families to know that the Government has your back. I want parents to be able to say, ‘sorry mate, it’s against the law for me to get you to do this’.“ (Press Conference – Parliament House, Canberra, 7. November 2024, https://www.pm.gov.au/media/press-conference-parliament-house-canberra-31). Also: Nicht ich verbiete Dir Deinen Spaß, sondern das Gesetz – sorry!

Zwei Jahre nach dem Handyverbot in australischen Schulen

Ein Jahr vor der flächendeckenden Einführung des Social-Media-Verbots für Jugendliche unter 16 Jahren („Australia’s social media ban for under 16s“) hatten nahezu alle australischen Bundesstaaten bereits ein Smartphone-Verbot an Schulen („school phone ban“) eingeführt, um Konzentrationsprobleme und Ablenkungen im Unterricht zu reduzieren sowie Konflikte in sozialen Netzwerken einzudämmen. Victoria (VIC) und Western Australia (WA) begannen bereits ab Term 1 in 2020, gefolgt von Tasmanien (TAS) in Term 2 in 2020, Northern Territory (NT) in Term 1 in 2023, South Australia (SA) in Term 3 in 2023, New South Wales (NSW) ab Term 4 in 2024 und schließlich Queensland (QLD) ab Term 1 in 2024. Die Regelungen sehen in der Regel vor, dass Schüler*innen ihre Handys während des Schultags in Taschen oder Schließfächern aufbewahren. Der Schulleiter Caleb Peterson vom Australian Christian College (Casey, VIC) beschreibt, dass die ständige Erreichbarkeit bei den Schüler*innen zu einem „notification-driven code-switching“ geführt habe – das Denken der Schüler*innen sei vor der Einführung des Verbots „fragmentiert“ gewesen. Seit dem Verbot habe sich die Aufmerksamkeit im lehrer*innen-zentrierten Unterricht seines Erachtens spürbar verbessert: Unterricht beginne strukturierter, Unterbrechungen seien seltener, und auch in den Pausen gebe es mehr Gespräche, Spiele und soziale Interaktionen – im physischen Raum. Empirische Befunde sollen diese Beobachtungen stützen: So ergab beispielsweise eine Befragung von knapp 1.000 Schulleitungen öffentlicher Schulen in NSW, dass 95 % der Schulleitungen das Verbot weiterhin befürworten. Aufgrund von weniger Störungen und Ablenkungen des Unterrichts (87 %) hätte sich das Lernen im Unterrichtskontext verbessert (81 %). Schulleiter*innen meldeten außerdem zurück, dass sie eine „positivere soziale Interaktion“ im „persönlichen“ (präziser: im physisch-raumbezogenen) Miteinander (86 %) wahrnehmen.

Ambivalente Sichtweisen der Schüler*innen

Etwas ambivalenter bewerten die Jugendlichen selbst die Situation: Ruqayah, eine Absolventin einer Schule in Sydney (NSW), hält das Verbot für eine „Überreaktion“: Smartphones gäben Jugendlichen Sicherheit und Zugehörigkeit – ihr Verlust verursache Stress und zusätzliche Konflikte. Andere Schüler*innen berichten aber auch von positiven Effekten, so würde bei Tests weniger geschummelt und Mitschüler*innen, die „chronisch online“ waren, wären heute ruhiger. Auch die Angst vor heimlichen Fotografien, die für Cyberbullying oder (Deep) Fakes verwendet werden können, hätte sich reduziert. Mariam, Schülerin einer öffentlichen Schule in Sydney (NSW), empfindet die Regelung zwar als „unfair“ und kritisiert, dass Lehrer*innen sie teils zur Machtausübung nutzten, erkennt aber dennoch eine Verbesserung ihrer eigenen Lernleistungen. Solche ambivalenten Haltungen zeigen, dass die Maßnahme im Alltag zugleich entlastend und einschränkend wirkt – ein Muster, das auch aus den europäischen Debatten bekannt ist.

Offene Fragen und wissenschaftliche Desiderate

Der Kollege und Bildungsforscher Neil Selwyn (Monash University, Melbourne, VIC) äußert deutliche Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Verbote: Sie seien zwar populär, aber bislang kaum wissenschaftlich evaluiert. Politiker*innen haben sie vor allem deshalb forciert, weil sie eine einfache Antwort auf gesellschaftliche Sorgen über exzessive Mediennutzung böten. Außerdem sei die Evidenzlage dünn: Es gibt bisher keine belastbaren wissenschaftlichen Studien, die den Zusammenhang von Handyverboten in Schulen und signifikanten Verbesserungen von Lernprozessen oder Lernleistungen, Wohlbefinden oder Verhalten belegen. Schulen sind zwar ein wichtiger Ort für kritische Debatten über Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen – die eigentliche Verantwortung liegt jedoch bei den Eltern und Familien. Viele Kolleg*innen aus der Erziehungswissenschaft sowie aus der (medien-)pädagogischen Praxis in Australien fordern daher langfristige, qualitative Untersuchungen, die die Perspektiven von Lehrer*innen und Schüler*innen einbeziehen, statt sich auf recht oberflächliche Meinungsumfragen unter Schulleitungen zu beschränken.

Symbolpolitik ohne wissenschaftliche Evidenz?

Meine persönlichen Gespräche vor Ort zwei Jahre nach dem school phone ban und ein Jahr nach dem landesweiten social media ban for under 16s mit Kolleg*innen an den Hochschulen, Schulleiter*innen, Lehrer*innen und Schüler*innen zeigten, dass Schulen und Lehrer*innen zwar mehr Ruhe im Unterricht, eine stärkere Fokussierung auf die Lerninhalte und mehr soziale Interaktion vor Ort unter den Schüler*innen wahrnehmen, die Schüler*innen selbst die Maßnahmen aber sehr ambivalent bewerten: Sie erleben die Verbote oft als Zensur, als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit und sozialer Teilhabe.

Politisch und gesellschaftlich dienen die Verbote als – primär symbolische – Antwort auf breitere Digitalisierungsängste sowie Sorgen, die sich mit exzessiver Mediennutzung verbinden. Zwar scheint das Verbot den schulischen Alltag und vor allem die Aufmerksamkeit auf die Lehrperson im Unterricht verbessert zu haben. Schule dient aber nicht allein der Informationsweitergabe, sondern ist – nach der Herkunftsfamilie – eine wesentliche Sozialisationsinstanz und Ort kritisch-reflektierten Medienlernens. In der Familie wie auch in der Schule sollen Kinder und Jugendliche einen sinnvollen und selbstbestimmten Umgang mit digitalen Medien, Smartphones und Social Media erlernen. Es ist davon auszugehen, dass diese indirekten (d. h. in den Lehr- und Bildungsplänen oft nicht explizit benannten) Lernchancen durch pauschale Verbote verloren gehen. Smartphones könnten außerdem wertvolle didaktische Werkzeuge im Unterricht sein und bieten kreative, lernförderliche sowie lehrunterstützende Möglichkeiten. Auch diese wurden durch den school phone ban stark eingeschränkt, da adäquate Schulgeräte häufig (noch?) nicht existieren – weder in Australien noch bei uns. Erwartbar ist also ein deutlicher Rückgang des mediengestützten Unterrichts sowie des handlungsorientierten Unterrichts mit und über Medien. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die vermeintlichen Gewinne an Ruhe und Ordnung im Unterricht und beim familiären Abendessen den Verlust an gesellschaftlicher Teilhabe, medienbezogenen Lernchancen mit dem Ziel der Medienkompetenzförderung sowie mediendidaktischen und handlungsorientierten Unterrichtskonzepten rechtfertigen – oder ob es sich letztlich um Symbolpolitik handelt, die wissenschaftlich nicht gestützt ist.

Zum Autor: Prof. Dr. phil. Thomas Knaus ist Professor für Medienbildung an der Heidelberg University of Education und Honorarprofessor für Bildungsinformatik am Fachbereich Informatik & Ingenieurwissenschaften der Frankfurt UAS; zuvor war er als Wiss. Direktor des FTzM in Frankfurt/Main, als Universitätsprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaft in Erlangen-Nürnberg, als Professur für Erziehungswissenschaft mit SP Medienpädagogik an der Ludwigsburg University of Education sowie u. a. an der Universität Wien als Visiting Professor tätig; seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind der digitale Wandel in Bildungseinrichtungen, die schulische Medienpädagogik, die wissenschaftstheoretische und methodologische Fundierung der Medienpädagogik sowie KI in Schule und Hochschule; ehrenamtlich engagiert er sich u. a. im erweiterten Vorstand der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), im Lenkungskreis der Initiative Keine Bildung ohne Medien (KBoM!), in der Gesellschaft für Informatik (GI), in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) sowie als Sprecher der Fachgruppe Qualitative Forschung. knaus@ph-heidelberg.de | https://thomas-knaus.de/